Ein Lebenskünstler in den Wellen der Welt zu Hause
Eine Geschichte über die pure Leidenschaft zu Surfbrettern und wie man nichts verlangt, aber alles bekommt.
Portrait: Surfer und Surfboard-Hersteller in Nicaragua
Ein Unglück führt uns ins Glück: Johannes Surfbrett ist beim Surfen beschädigt worden. Mist. Wir wissen was das bedeutet: Nada mit surfen. Es gibt nur einen, der uns helfen kann: Cristobal Desforges (42) ist ein Surfboard-Reparateur und lebt seit 16 Jahren in Nicaragua. Bei der ersten Begegnung mit Cristobal sind Johannes und ich sofort inspiriert: Er hat dieses Funkeln in den Augen bei seiner Arbeit, wonach wir Ausschau halten. Wir vereinbaren ungezwungen einen Termin. Wir möchten erfahren, woher diese echte Freude für seine Tätigkeit rührt.
Eine Woche später betreten wir eine Werkstatt in dem kleinen Dorf namens Guasacate in Nicaragua – etwa 100 km südlich der Hauptstadt Managua. Es gibt einige Strohhütten, einen Minimarket, ein Café und ein paar wild herumlaufende Hühner sowie schlafende Hunde unter Palmen am feuchten Wegesrand. Das Meer in unmittelbarer Nähe. Die Werkstatt vor einem Mangrovenflussbett hat die Ausmaße einer großzügigen Garage, die mit Boards und Werkzeug zugestellt ist – ein buntes Potpourri an Brettern aus aller Welt in den verschiedensten Versionen, Formen und Farben. Der Staub vom Schleifen der Surfbretter wird vom Sonnenlicht angestrahlt, das erkenne ich schon am Eingang. Mitten im geordneten Chaos steht Cristobal mit einer Gasmaske, in Shorts, T-Shirt und Crocs, die mit Farbklecksen übersät sind. Ein üppiges Wolftattoo am Arm, ein scharf akkurater Kurzhaarschnitt und tiefe blaue Augen zeichnen ihn auf den ersten Blick aus. Die Regale und Wände sind mit Pinseln, Sprühdosen und Surfbrettern geschmückt, die horizontal und diagonal aufgestellt sind. Es ist schmutzig, am Boden liegen gebrauchte Materialien und aus einem alten kleinen Retroradio, das direkt neben einem Tierschädel auf einem kleinen Tisch platziert ist, läuft die Musik von Beth Gibbons. Man erkennt: Hier wird ordentlich gearbeitet, gleichzeitig ist es gemütlich und charmant. Manche Bretter, vereinzelt sogar in zwei Teile zerbrochen, liegen gestapelt übereinander, weil kein Platz mehr vorhanden ist. Hier befindet sich Cristobal in seiner Wohlfühloase. Hier ist er unter Freunden, denn so behandelt er jedes Surfbrett – mit Liebe, Respekt und Geduld. Er nimmt seine Staubmaske ab, da er gerade Lack auf ein Surfbrett gesprüht hat, das auf seiner Arbeitsbank sorgfältig und sicher aufliegt. Die Unterhaltung beginnt mit seiner Morgenroutine: Für gewöhnlich startet er um 6 Uhr in den Tag, bereitet das Frühstück zu, dass er ans Bett seiner Freundin bringt. Ich bin beeindruckt. Sie betritt auch die Werkstatt und ich frage ob das stimmt und sie nickt lächelnd. „Schau, ich werde dir hier nur die Wahrheit sagen“, sagt Cristobal leicht verlegen, dennoch selbstbewusst. Er nennt die gemeinsame Zeit am Morgen mit seiner Freundin namens Odile „Talking-Time“, wobei Pläne für den bevorstehenden Tag geschmiedet werden. Danach checkt er die Wellen, ob diese für eine Surfsession nach Feierabend geeignet sind.
„Wir versuchten immer mit nichts im Ozean zu spielen.“
Die frühen Jahre
Mit 12 Jahren fängt Cristobal an zu surfen. In Frankreich in einem kleinen Dorf namens Royan, des Departments Charente-Maritime, wohnt seine Familie nicht weit vom Meer entfernt, sodass er im Sommer immer mit seinen zwei Brüdern im Meer herumtollen kann. Damals haben sie nur Schwimmbretter, noch keine Surfboards. Später kommen die Bodyboards hinzu und die Jungs versuchen auf den Bodyboards stehend zu balancieren. „Wir verbrachten unsere ganze Zeit im Ozean und spielten immer mit den Wellen. Damals gab es nicht viele Möglichkeiten. Wir hatten nicht viel und versuchten immer mit nichts im Ozean zu spielen“, erklärt Cristobal. Diese Umgebung legt den Grundstein für seine spätere Passion – dem Surfen. Als Cristobal älter wird, kauft er sich einen Schwimmanzug, damit er ab sofort auch im Winter im kalten Ozean spielen kann. Schließlich bekommt er sein erstes Surfboard: „Hawaiian Juice“ ist der Markenname und seine Augen strahlen, als er davon spricht. Mit 16 Jahren reist er das erste Mal im Jahr 1996 alleine ins Ausland nach Taghazout in Marokko, das als Surfeldorado gilt. Dort surft er jeden Tag 3 Wochen wie ein Besessener. Der Trigger für alles, was danach kommt. Er kehrt zurück nach Frankreich und verkündet seiner Mutter, dass er die Schule abbrechen und nur noch reisen sowie surfen will. Natürlich ist sie dagegen. Aber ihn kann nichts aufhalten – er hat nur das Wellenreiten im Kopf. So bricht er die Schule im Alter von 16 Jahren ab. Diese Unternehmung zeichnet sich jedoch als schlimme Zeit ab, denn er fühlt sich völlig verloren: keinerlei Pflichten, keinen Plan von nichts, was er hätte anstellen können, außer zu surfen. Seine Mutter hatte also Recht behalten, wie er im Nachhinein zugibt. Er weiß als Teenager nicht, was er kann, worin er gut ist. Das Einzige was ihm klar ist, dass er irgendwie mit irgendwas Geld verdienen muss, damit er raus in die Welt zu den exotischen Wellen reisen kann. In diesem Jahr schwebt er planlos in der Luft. Nach einem Jahr entscheidet er sich jedoch dazu, die Schule zu beenden und dann mit 18 wieder aufzubrechen. Doch zurück in Frankreich lernt er wie man Surfbretter repariert. Angelockt vom Lackgeruch und seiner Neugier, verbringt er viel Zeit damit, einem Freund beim Reparieren und Restaurieren von Surfbrettern zuzuschauen. Es ist eine spielerische Herangehensweise mit dem Material herumzuexperimentieren. Anschließend geht er für drei Monate für einen Sommerferienjob nach Mexiko – die wilden und gigantischen Wellen und Surfmöglichkeiten verzaubern ihn. Dann kommt der Schlüsselmoment, den er nie mehr vergisst: Der 19-jährige Cristobal starrt auf sein Rückflugticket nach Frankreich und in seinem Kopf überschlagen sich Fragen darüber, was er tun soll. Doch er hat die Antwort längst parat: Er zerreißt das Ticket und bleibt in Mexiko. Als ich ihn frage, wie seine Eltern reagierten, antwortet er lässig, dass es ihnen egal war. Er hat seinen Vater nicht mehr gesehen, seitdem er 14 Jahre ist. Seine Eltern lebten getrennt und seine Mutter ist zu dem Zeitpunkt neu verliebt. Doch sie vertraut ihrem Sohn und weiß, dass er sein Ding machen wird.
„Wenn ich im Meer bin, habe ich vor nichts Angst. Wenn ich in der Nähe vom Meer bin, weiß ich, wie ich überlebe, ich weiß, woher ich Essen bekomme und ich weiß was zu tun ist.“
Leben in Mexiko
Cristobal bleibt 5 Jahre in Mexiko. Dort macht er verschiedene Dinge und ist kreativ, um zu überleben: Fischen, selbstgemachten Schmuck und Pfeifen aus Naturmaterialien herstellen und verkaufen, kellnern, putzen usw. Er führt ein „Ozean-Leben“, wie er es selbst bezeichnet und ist dabei stolz, da er auf diese Weise so viel Zeit wie nur möglich im Meer verbringen kann. Er verlangt rein gar nichts vom Leben. Er kauft sich einen alten VW-Bus und lebt darin: Essen, Surfen, Essen und Schlafen – seine Tagesroutine, das wars, keine konkreten Ziele. „Nichts. Ich habe ein Leben mit nichts geführt“, so beschreibt er sein Leben vor Ort. Während dieser Zeit lernt er mit sehr wenig auszukommen, da er nicht viel zum (über)leben braucht. Er verspürt jedoch das Bedürfnis irgendwie produktiv sein zu müssen, da das Leben so zu einfach scheint. Es gibt Tage an denen er die Wellen nicht richtig genießen kann, weil er nichts dafür tun muss, um sich diese als Belohnung zu gönnen. Die Quelle, aus der er für gewöhnlich Kraft tankt, gibt ihm nicht mehr die gewünschte Befriedigung. Das Gefühl permanent in den Wellen zu sein, hat ihn zu sehr verwöhnt, sodass er die anfänglichen Freuden beim Surfen nicht mehr fühlt und wertschätzt. Ich denke über das Gesagte nach: Muss man die Dinge, die man liebt, seltener machen, damit die Passion weiterhin etwas Besonderes bleibt?
Dieses Gefühl produktiv sein zu wollen und ausreichend Geld zu verdienen, verleiten ihn dazu, nach Kalifornien zu ziehen. Bestimmt sind die Möglichkeiten dort besser, denkt er. Er spricht mit einem Freund über seine aufkommenden Zweifel: Er spreche weder Englisch, noch kenne er dort jemanden. Also rät sein Freund ihm, warum nicht nach Tamarindo (Costa Rica) gehen? Dort gibt es viele Surfschulen und -shops, wo er mit Brettern arbeiten könne. Cristobal hat zu dem Zeitpunkt nur 300 Dollar, keinerlei Rücklagen und setzt alles auf eine Karte. Also geht er nach Costa Rica. Im Gepäck die Angst als konstanten Begleiter, aber ebenfalls das feste Vertrauen in sich selbst, dass es schon irgendwie klappen wird. Wenn nötig, kann er sogar draußen schlafen. Ich bin imponiert. Ist es jugendlicher Leichtsinn, Naivität oder der große Lebensdurst nach Abenteuer, der die Zweifel einfach überdeckt? Woher kommt dieses unermüdliche Selbstvertrauen? Cristobal beantwortet meine Frage sehr klar: „Ich denke das liegt am Ozean und dem ganzen Hinterherjagen der Wellen. Wenn ich im Meer bin, habe ich vor nichts Angst. Wenn ich in der Nähe vom Meer bin, weiß ich, wie ich überlebe. Ich weiß, woher ich Essen bekomme und ich weiß was zu tun ist. In der Stadt bin ich verloren und aufgeschmissen. Aber am Meer weiß ich genau wo ich bin und was zu tun ist.“
Pura Vida in Costa Rica
In Costa Rica begrüßen sich die Menschen auf der Straße für gewöhnlich mit „Pura Vida“, was übersetzt „das pure Leben“ bedeutet. Es soll daran erinnern, dass Leben in seiner Vollkommenheit und Schönheit immerzu wertzuschätzen und den Moment zu genießen – stets in der Gegenwart zu leben.
Cristobal strandet folglich in Costa Rica und nach ein paar Tagen hat er bereits drei Jobs. Er darf Surfunterricht geben und in einem Shop Surfbretter reparieren, was er sehr genießt, denn so kann er seine Arbeit immer mit seiner Leidenschaft verbinden. In Costa Rica bleibt er insgesamt sieben Monate. Doch mit der Zeit werden ihm die Wellen zu klein und er langweilt sich. Er sucht nach etwas Neuem, ist bereit für Neuland. Dann kommt auf einmal die Eingebung: Nach Indonesien zu den Wellentunnels (auf Surfersprache: „barrels“) zu reisen, um dort zu surfen. Doch der Plan ändert sich: Er muss sein Visum für Costa Rica verlängern, daher fährt er über die Grenze nach Nicaragua. In dieser Zeit entdeckt er rein zufällig den Strand von Popoyo. Es ist das Jahr 2003 und Cristobal ist 25 Jahre jung. Eine flüchtige Freundin rät ihm Ausschau nach Popoyo zu halten, da dort die Wellen angeblich sehr gut sein sollen. Das erste woran er sich erinnert, als er aus dem Bus steigt: Das Outer Reef, ein gigantischer Peak und wunderschöne mächtige Wellen. Während er davon berichtet, funkeln seine Augen und er blickt in die Ferne – als würde er dieses Bild vor seinem geistigen Auge in jenem Moment sehen können. Ich kann jedenfalls das Wellenbrechen förmlich hören. Er weiß überhaupt nichts über Nicaragua und bleibt 5 Tage. Jeden Tag surft er. Er ist alleine, kaum jemand ist vor Ort. Für ihn ist diese Zeit seltsam, aber auch magisch zugleich – es markiert seinen Wendepunkt. Cristobal verliert das Interesse nach Indonesien zu reisen, denn er hat etwas viel schöneres entdeckt: Das Surfen in Popoyo.
Exkurs: Fakten über das Surfen in Nicaragua
Bislang steckt die ehemalige spanische Kolonie, was das Surfen angeht, noch in den Kinderschuhen, wenn man es mit anderen Orten in Mittelamerika vergleicht, wie etwa Costa Rica. Dies bringt jedoch einige Vorteile mit sich: Weniger Touristen, saubere sowie leere Strände. Im Südwesten des Landes nahe der Grenze zu Costa Rica, liegt der größte Binnensee des Landes: Der Nicaraguasee. Mit einer Fläche von mehr als 8.000 Quadratkilometern ist er der drittgrößte See Lateinamerikas. Durch diese Beschaffenheit weht konstant Wind – fast das ganze Jahr über. Infolgedessen erhält die südliche pazifische Seite von Nicaragua beinahe immer den von Surfern beliebten Offshore-Wind (ablandiger Wind): Dieser Wind weht vom Land in Richtung Meer, wirkt den Wellen entgegen und sorgt dafür, dass sie sich auftürmen. Die Wellen brechen dadurch steiler und viel sauberer – die perfekte Welle für Surfer:innen. Mehrere Strände im Verwaltungsbezirk Rivas in den Gemeinden Tola und San Juan del Sur haben für diese Qualitäten sogar internationale Bekanntheit erlangt. Popoyo Beach in Tola ist der bekannteste Surfort in Nicaragua. Das Land ist somit ein ganzjähriges Surfziel. Der beste Wellengang wird durch tropische Stürme verursacht, die meist während der Regenzeit (Mai bis November) auftreten. Viele Spots im Süden Nicaraguas sind bei Flut am besten, während andere weiter nördlich bei Ebbe besser sind. Im Süden ermöglichen die Offshore-Winde oftmals das Surfen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Mehr Infos gibt es hier.