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Ein Lebenskünstler in den Wellen der Welt zu Hause

Eine Geschichte über die pure Leidenschaft zu Surfbrettern und wie man nichts verlangt, aber alles bekommt.

Portrait: Surfer und Surfboard-Hersteller in Nicaragua

Ein Unglück führt uns ins Glück: Johannes Surfbrett ist beim Surfen beschädigt worden. Mist. Wir wissen was das bedeutet: Nada mit surfen. Es gibt nur einen, der uns helfen kann: Cristobal Desforges (42) ist ein Surfboard-Reparateur und lebt seit 16 Jahren in Nicaragua. Bei der ersten Begegnung mit Cristobal sind Johannes und ich sofort inspiriert: Er hat dieses Funkeln in den Augen bei seiner Arbeit, wonach wir Ausschau halten. Wir vereinbaren ungezwungen einen Termin. Wir möchten erfahren, woher diese echte Freude für seine Tätigkeit rührt.
Eine Woche später betreten wir eine Werkstatt in dem kleinen Dorf namens Guasacate in Nicaragua – etwa 100 km südlich der Hauptstadt Managua. Es gibt einige Strohhütten, einen Minimarket, ein Café und ein paar wild herumlaufende Hühner sowie schlafende Hunde unter Palmen am feuchten Wegesrand. Das Meer in unmittelbarer Nähe. Die Werkstatt vor einem Mangrovenflussbett hat die Ausmaße einer großzügigen Garage, die mit Boards und Werkzeug zugestellt ist – ein buntes Potpourri an Brettern aus aller Welt in den verschiedensten Versionen, Formen und Farben. Der Staub vom Schleifen der Surfbretter wird vom Sonnenlicht angestrahlt, das erkenne ich schon am Eingang. Mitten im geordneten Chaos steht Cristobal mit einer Gasmaske, in Shorts, T-Shirt und Crocs, die mit Farbklecksen übersät sind. Ein üppiges Wolftattoo am Arm, ein scharf akkurater Kurzhaarschnitt und tiefe blaue Augen zeichnen ihn auf den ersten Blick aus. Die Regale und Wände sind mit Pinseln, Sprühdosen und Surfbrettern geschmückt, die horizontal und diagonal aufgestellt sind. Es ist schmutzig, am Boden liegen gebrauchte Materialien und aus einem alten kleinen Retroradio, das direkt neben einem Tierschädel auf einem kleinen Tisch platziert ist, läuft die Musik von Beth Gibbons. Man erkennt: Hier wird ordentlich gearbeitet, gleichzeitig ist es gemütlich und charmant. Manche Bretter, vereinzelt sogar in zwei Teile zerbrochen, liegen gestapelt übereinander, weil kein Platz mehr vorhanden ist. Hier befindet sich Cristobal in seiner Wohlfühloase. Hier ist er unter Freunden, denn so behandelt er jedes Surfbrett – mit Liebe, Respekt und Geduld. Er nimmt seine Staubmaske ab, da er gerade Lack auf ein Surfbrett gesprüht hat, das auf seiner Arbeitsbank sorgfältig und sicher aufliegt. Die Unterhaltung beginnt mit seiner Morgenroutine: Für gewöhnlich startet er um 6 Uhr in den Tag, bereitet das Frühstück zu, dass er ans Bett seiner Freundin bringt. Ich bin beeindruckt. Sie betritt auch die Werkstatt und ich frage ob das stimmt und sie nickt lächelnd. „Schau, ich werde dir hier nur die Wahrheit sagen“, sagt  Cristobal leicht verlegen, dennoch selbstbewusst. Er nennt die gemeinsame Zeit am Morgen mit seiner Freundin namens Odile „Talking-Time“, wobei Pläne für den bevorstehenden Tag geschmiedet werden. Danach checkt er die Wellen, ob diese für eine Surfsession nach Feierabend geeignet sind.

„Wir versuchten immer mit nichts im Ozean zu spielen.“

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Die frühen Jahre
Mit 12 Jahren fängt Cristobal an zu surfen. In Frankreich in einem kleinen Dorf namens Royan, des Departments Charente-Maritime, wohnt seine Familie nicht weit vom Meer entfernt, sodass er im Sommer immer mit seinen zwei Brüdern im Meer herumtollen kann. Damals haben sie nur Schwimmbretter, noch keine Surfboards. Später kommen die Bodyboards hinzu und die Jungs versuchen auf den Bodyboards stehend zu balancieren. „Wir verbrachten unsere ganze Zeit im Ozean und spielten immer mit den Wellen. Damals gab es nicht viele Möglichkeiten. Wir hatten nicht viel und versuchten immer mit nichts im Ozean zu spielen“, erklärt Cristobal. Diese Umgebung legt den Grundstein für seine spätere Passion – dem Surfen. Als Cristobal älter wird, kauft er sich einen Schwimmanzug, damit er ab sofort auch im Winter im kalten Ozean spielen kann. Schließlich bekommt er sein erstes Surfboard: „Hawaiian Juice“ ist der Markenname und seine Augen strahlen, als er davon spricht. Mit 16 Jahren reist er das erste Mal im Jahr 1996 alleine ins Ausland nach Taghazout in Marokko, das als Surfeldorado gilt. Dort surft er jeden Tag 3 Wochen wie ein Besessener. Der Trigger für alles, was danach kommt. Er kehrt zurück nach Frankreich und verkündet seiner Mutter, dass er die Schule abbrechen und nur noch reisen sowie surfen will. Natürlich ist sie dagegen. Aber ihn kann nichts aufhalten – er hat nur das Wellenreiten im Kopf. So bricht er die Schule im Alter von 16 Jahren ab. Diese Unternehmung zeichnet sich jedoch als schlimme Zeit ab, denn er fühlt sich völlig verloren: keinerlei Pflichten, keinen Plan von nichts, was er hätte anstellen können, außer zu surfen. Seine Mutter hatte also Recht behalten, wie er im Nachhinein zugibt. Er weiß als Teenager nicht, was er kann, worin er gut ist. Das Einzige was ihm klar ist, dass er irgendwie mit irgendwas Geld verdienen muss, damit er raus in die Welt zu den exotischen Wellen reisen kann. In diesem Jahr schwebt er planlos in der Luft. Nach einem Jahr entscheidet er sich jedoch dazu, die Schule zu beenden und dann mit 18 wieder aufzubrechen. Doch zurück in Frankreich lernt er wie man Surfbretter repariert. Angelockt vom Lackgeruch und seiner Neugier, verbringt er viel Zeit damit, einem Freund beim Reparieren und Restaurieren von Surfbrettern zuzuschauen. Es ist eine spielerische Herangehensweise mit dem Material herumzuexperimentieren. Anschließend geht er für drei Monate für einen Sommerferienjob nach Mexiko – die wilden und gigantischen Wellen und Surfmöglichkeiten verzaubern ihn. Dann kommt der Schlüsselmoment, den er nie mehr vergisst: Der 19-jährige Cristobal starrt auf sein Rückflugticket nach Frankreich und in seinem Kopf überschlagen sich Fragen darüber, was er tun soll. Doch er hat die Antwort längst parat: Er zerreißt das Ticket und bleibt in Mexiko. Als ich ihn frage, wie seine Eltern reagierten, antwortet er lässig, dass es ihnen egal war. Er hat seinen Vater nicht mehr gesehen, seitdem er 14 Jahre ist. Seine Eltern lebten getrennt und seine Mutter ist zu dem Zeitpunkt neu verliebt. Doch sie vertraut ihrem Sohn und weiß, dass er sein Ding machen wird.

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„Wenn ich im Meer bin, habe ich vor nichts Angst. Wenn ich in der Nähe vom Meer bin, weiß ich, wie ich überlebe, ich weiß, woher ich Essen bekomme und ich weiß was zu tun ist.“

Leben in Mexiko
Cristobal bleibt 5 Jahre in Mexiko. Dort macht er verschiedene Dinge und ist kreativ, um zu überleben: Fischen, selbstgemachten Schmuck und Pfeifen aus Naturmaterialien herstellen und verkaufen, kellnern, putzen usw. Er führt ein „Ozean-Leben“, wie er es selbst bezeichnet und ist dabei stolz, da er auf diese Weise so viel Zeit wie nur möglich im Meer verbringen kann. Er verlangt rein gar nichts vom Leben. Er kauft sich einen alten VW-Bus und lebt darin: Essen, Surfen, Essen und Schlafen – seine Tagesroutine, das wars, keine konkreten Ziele. „Nichts. Ich habe ein Leben mit nichts geführt“, so beschreibt er sein Leben vor Ort. Während dieser Zeit lernt er mit sehr wenig auszukommen, da er nicht viel zum (über)leben braucht. Er verspürt jedoch das Bedürfnis irgendwie produktiv sein zu müssen, da das Leben so zu einfach scheint. Es gibt Tage an denen er die Wellen nicht richtig genießen kann, weil er nichts dafür tun muss, um sich diese als Belohnung zu gönnen. Die Quelle, aus der er für gewöhnlich Kraft tankt, gibt ihm nicht mehr die gewünschte Befriedigung. Das Gefühl permanent in den Wellen zu sein, hat ihn zu sehr verwöhnt, sodass er die anfänglichen Freuden beim Surfen nicht mehr fühlt und wertschätzt. Ich denke über das Gesagte nach: Muss man die Dinge, die man liebt, seltener machen, damit die Passion weiterhin etwas Besonderes bleibt?

Dieses Gefühl produktiv sein zu wollen und ausreichend Geld zu verdienen, verleiten ihn dazu, nach Kalifornien zu ziehen. Bestimmt sind die Möglichkeiten dort besser, denkt er. Er spricht mit einem Freund über seine aufkommenden Zweifel: Er spreche weder Englisch, noch kenne er dort jemanden. Also rät sein Freund ihm, warum nicht nach Tamarindo (Costa Rica) gehen? Dort gibt es viele Surfschulen und -shops, wo er mit Brettern arbeiten könne. Cristobal hat zu dem Zeitpunkt nur 300 Dollar, keinerlei Rücklagen und setzt alles auf eine Karte. Also geht er nach Costa Rica. Im Gepäck die Angst als konstanten Begleiter, aber ebenfalls das feste Vertrauen in sich selbst, dass es schon irgendwie klappen wird. Wenn nötig, kann er sogar draußen schlafen. Ich bin imponiert. Ist es jugendlicher Leichtsinn, Naivität oder der große Lebensdurst nach Abenteuer, der die Zweifel einfach überdeckt? Woher kommt dieses unermüdliche Selbstvertrauen? Cristobal beantwortet meine Frage sehr klar: „Ich denke das liegt am Ozean und dem ganzen Hinterherjagen der Wellen. Wenn ich im Meer bin, habe ich vor nichts Angst. Wenn ich in der Nähe vom Meer bin, weiß ich, wie ich überlebe. Ich weiß, woher ich Essen bekomme und ich weiß was zu tun ist. In der Stadt bin ich verloren und aufgeschmissen. Aber am Meer weiß ich genau wo ich bin und was zu tun ist.“

Pura Vida in Costa Rica
In Costa Rica begrüßen sich die Menschen auf der Straße für gewöhnlich mit „Pura Vida“, was übersetzt „das pure Leben“ bedeutet. Es soll daran erinnern, dass Leben in seiner Vollkommenheit und Schönheit immerzu wertzuschätzen und den Moment zu genießen – stets in der Gegenwart zu leben.
Cristobal strandet folglich in Costa Rica und nach ein paar Tagen hat er bereits drei Jobs. Er darf Surfunterricht geben und in einem Shop Surfbretter reparieren, was er sehr genießt, denn so kann er seine Arbeit immer mit seiner Leidenschaft verbinden. In Costa Rica bleibt er insgesamt sieben Monate. Doch mit der Zeit werden ihm die Wellen zu klein und er langweilt sich. Er sucht nach etwas Neuem, ist bereit für Neuland. Dann kommt auf einmal die Eingebung: Nach Indonesien zu den Wellentunnels (auf Surfersprache: „barrels“) zu reisen, um dort zu surfen. Doch der Plan ändert sich: Er muss sein Visum für Costa Rica verlängern, daher fährt er über die Grenze nach Nicaragua. In dieser Zeit entdeckt er rein zufällig den Strand von Popoyo. Es ist das Jahr 2003 und Cristobal ist 25 Jahre jung. Eine flüchtige Freundin rät ihm Ausschau nach Popoyo zu halten, da dort die Wellen angeblich sehr gut sein sollen. Das erste woran er sich erinnert, als er aus dem Bus steigt: Das Outer Reef, ein gigantischer Peak und wunderschöne mächtige Wellen. Während er davon berichtet, funkeln seine Augen und er blickt in die Ferne – als würde er dieses Bild vor seinem geistigen Auge in jenem Moment sehen können. Ich kann jedenfalls das Wellenbrechen förmlich hören. Er weiß überhaupt nichts über Nicaragua und bleibt 5 Tage. Jeden Tag surft er. Er ist alleine, kaum jemand ist vor Ort. Für ihn ist diese Zeit seltsam, aber auch magisch zugleich – es markiert seinen Wendepunkt. Cristobal verliert das Interesse nach Indonesien zu reisen, denn er hat etwas viel schöneres entdeckt: Das Surfen in Popoyo.

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Exkurs: Fakten über das Surfen in Nicaragua

Bislang steckt die ehemalige spanische Kolonie, was das Surfen angeht, noch in den Kinderschuhen, wenn man es mit anderen Orten in Mittelamerika vergleicht, wie etwa Costa Rica. Dies bringt jedoch einige Vorteile mit sich: Weniger Touristen, saubere sowie leere Strände. Im Südwesten des Landes nahe der Grenze zu Costa Rica, liegt der größte Binnensee des Landes: Der Nicaraguasee. Mit einer Fläche von mehr als 8.000 Quadratkilometern ist er der drittgrößte See Lateinamerikas. Durch diese Beschaffenheit weht konstant Wind – fast das ganze Jahr über. Infolgedessen erhält die südliche pazifische Seite von Nicaragua beinahe immer den von Surfern beliebten Offshore-Wind (ablandiger Wind): Dieser Wind weht vom Land in Richtung Meer, wirkt den Wellen entgegen und sorgt dafür, dass sie sich auftürmen. Die Wellen brechen dadurch steiler und viel sauberer – die perfekte Welle für Surfer:innen. Mehrere Strände im Verwaltungsbezirk Rivas in den Gemeinden Tola und San Juan del Sur haben für diese Qualitäten sogar internationale Bekanntheit erlangt. Popoyo Beach in Tola ist der bekannteste Surfort in Nicaragua. Das Land ist somit ein ganzjähriges Surfziel. Der beste Wellengang wird durch tropische Stürme verursacht, die meist während der Regenzeit (Mai bis November) auftreten. Viele Spots im Süden Nicaraguas sind bei Flut am besten, während andere weiter nördlich bei Ebbe besser sind. Im Süden ermöglichen die Offshore-Winde oftmals das Surfen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Mehr Infos gibt es hier.

Während wir das Interview führen, kommen immer wieder junge Leute barfuß, in Shorts und mit nacktem Oberkörper in die Werkstatt: Es sind ambitionierte und tätowierte Surfer – meist mit demolierten Boards unter den Armen – die mit ihren Wünschen zur Person ihres Vertrauens gehen. Es ist ein herzliches und freundschaftliches Begrüßen – keine Fremden, vielmehr wie gute alte Freunde. Man plauscht über dies und das, macht Witze und man berichtet über Surfsessions, wie die eine bestimmte Welle gebrochen ist. Gelächter und Handschläge. Adios muchachos.
Cristobal bleibt folglich in Popoyo, repariert ab und zu Surfbretter von Touristen. Er ist der Einzige der diese Fertigkeit hier beherrscht. Das Material besorgt er in Costa Rica, bringt es über die Grenze nach Popoyo – so vergehen schlagartig acht Jahre, ohne wirklich bewusst zu realisieren, dass er eigentlich dort sesshaft geworden ist und sich etwas aufgebaut hat.

„Wenn man sich nicht von Anfang an einer Sache vollkommen verschreibt, glaube ich, dass man etwas von dem verliert, was diese Sache dir eigentlich geben könnte.“

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Was seine große Erkenntnis ist: Sich von Anfang an einem Projekt zu verschreiben, wohlwissend, dass es vielleicht nicht ewig währt. „Wenn man sich nicht von Anfang an einer Sache vollkommen verschreibt, glaube ich, dass man etwas von dem verliert, was diese Sache dir eigentlich geben könnte,“ schildert er in der Retrospektive, selbst wenn dieses Projekt auch nur ein paar Monate oder Wochen andauert. Leicht melancholisch erklärt er mir, dass er keine Basis geschaffen habe. Erst nach fast einem Jahrzehnt in Nicaragua habe er realisiert, dass er sich dort niedergelassen hat. Es braucht seine Zeit, bis er sich dazu entscheidet in Nicaragua zu bleiben und sich dort etwas Solides aufzubauen. Cristobal kauft ein Grundstück und baut ein Haus.

Ich stimme mit ihm nicht ganz überein. Schwermütig braucht er nicht zu sein, gar etwas zu bereuen. Ich bin der Meinung, dass sein ganzer Weg, der ihn nach Popoyo gebracht hat, einen elementaren Prozess abzeichnet: Er braucht diese „unbewusste“ Entfaltung – diese Polarität, damit er sich umso bewusster über das sein kann, was er heute wirklich will. Die nicaraguanischen Beamten geben ihm Papiere, damit er Steuern zahlen kann, sein kleines Geschäft betreiben und legal im Land bleiben darf. Er kümmert sich in den Anfangsjahren zunächst nur um den Surfboardverleih und repariert ramponierte Surfbretter unter dem Namen „Popoyo Ding Repair“. Er erinnert sich daran, dass es zu Beginn ein sehr kleines Business war – damals herrschten spartanische Zeiten, es war kein großer Bedarf vorhanden. Beinahe alle drei Monate muss er nach Costa Rica reisen, um Material zu besorgen, da es in Nicaragua selbst keine Rohstoffe gibt – das macht er nun schon seit 10 Jahren. Seine Pässe sind voll von Stempeleinträgen aufgrund der Grenzüberschreitungen.

PURE LINES
PURE LINES entsteht 2016, als er Zugang zu ganz neuem Material bekommt. Cristobal besitzt eine eigene kleine Manufaktur und kreiert und gestaltet seine eigenen handgefertigten Surfbretter. Der Name hat verschiedene Bedeutungen für Cristobal: Wenn man mit Surfbrettern arbeitet, muss man sich viel mit dem Design der Kanten beschäftigen. Ein Board ist letztlich definiert durch Linien. Dabei erklärt er sehr detailliert und klar, wie mit den Linien vorzugehen ist und macht dabei ruhige und wellenartige Handbewegungen: Je sauberer die Linien, desto schöner die Bretter. Zudem liebt er es selbst beim Surfen eine einheitliche Linie in den Wellen zu fahren. Die meisten Surfer heutzutage machen sehr viele schnelle Drehungen und lassen sich von der Energie der Welle immer wieder antreiben. Doch Cristobal selbst ist kein aggressiver Surfer. Er mag es eine reine Welle von Anfang bis Ende zu fahren – im Flow, mit derselben Energie. Zudem mag er das Wort „pure“ einfach sehr. Es klingt ehrlich, rein und echt. Während er davon erzählt funkeln seine Augen wieder, er scheint schon fast leicht beschämt über seine Ausführungen, senkt den Blick nach unten und lächelt. Er findet kaum Worte für das reine Gefühl.

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„Ich habe so viele Surftrips von Menschen gerettet, deren Bretter ich reparieren durfte. So viel Dank, Wertschätzung und das Lächeln der Menschen – das erfüllt mein Herz. Das ist das Beste.“

Nachhaltigkeit ist anfangs kein Thema. Mit PURE LINES möchte er das Image der Surfbretter-Instandsetzung in den Köpfen der Menschen verändern. Vor allem war früher der Zugang zu solchen Reparaturen schwer und es war leichter für Leute, ihre kaputten Boards einfach wegzuschmeißen, anstatt einen geeigneten Reparateur zu finden und Geld zu investieren. Es ist schlichtweg faule Bequemheit, einfach ein neues Board zu kaufen. „Ich wollte das Image von einem sorglosen Gras-rauchenden Typen ändern, dem es egal ist, dass sein Surfbrett kaputt ist und sich keinerlei Gedanken über die Wiederherstellung macht“, erläutert Cristobal, der überzeugt davon ist, dass es eine wertvolle Sache ist.

Er fühlt sich gut, wenn er dadurch ein wenig der Natur und auch den Menschen helfen kann und dazu beiträgt, ein nachhaltiges Bewusstsein zu schaffen. Aber was er durch seine Arbeit realisiert, und dabei grinst er über das ganze Gesicht: „Ich habe so viele Surftrips von Menschen gerettet, deren Bretter ich reparieren durfte. So viel Dank, Wertschätzung und das Lächeln der Menschen – das erfüllt mein Herz. Das ist das Beste.“ Cristobal ist zunächst der einzige Surfboard-Reparateur und Shaper in der Gegend um Popoyo. In einem nahegelegenen Dorf namens

El Limón Dos gibt es mittlerweile einen weiteren Reparateur, aber für mindestens 2 Jahre, ist Cristobal zu Beginn der einzige, der sein Handwerk beherrscht. Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, hat er somit ein Alleinstellungsmerkmal geschaffen. Durch seine Arbeit erhält Cristobal mit der Zeit Zutritt zu einer Vielfalt von Surfbrettern und ist in seinem Element: „Ich kann Boards berühren, habe Zugang zu den verschiedensten Boards aus aller Welt – Australien, Japan, Südafrika, den Staaten, Frankreich, etc. Ich kann die ganze Zeit mit verschiedenen Menschen über Boards sprechen, mit den Boards im Meer schwimmen. Ich fühle mich so, wie ein Hund in seinem Revier. Es ist großartig. Ich habe das Gefühl wirklich Menschen zu helfen und das mag ich“, schwärmt er.


Die große Liebe finden
Odile und Cristobal begegnen sich zum ersten Mal 2012. Sie ist eine Kundin und möchte ein Surfbrett ausleihen. Während er die Geschichte erzählt, wird sein Gesicht ganz weich und wirkt wie ein kleiner schwärmender sowie unschuldiger Junge. Beide sind zu diesem Zeitpunkt jedoch vergeben. Sie begegnen sich immer mal wieder rein zufällig – über mehrere Jahre hinweg sogar noch. Jedoch wird nichts forciert. Cristobal ist zu schüchtern, um sie anzusprechen. Es ist ein hin und her zwischen zufälligen Begegnungen, bis Odile dann die Chance ergreift, sich eines Tages bei einer Party bei Sonnenuntergang neben ihn setzt – das Ende vom Anfang: Sie küssen sich. Voilà!
Während ich seinen Erzählungen lausche, meine ich sein Geheimrezept zu erkennen: Er scheint nichts in seinem Leben zu erzwingen, selbst dann nicht, wenn das Glück direkt vor seiner Nasenspitze lauert. Er lässt die Dinge einfach auf sich zukommen, hat keine Ansprüche, keinerlei Erwartungen. Er geht einfach mit dem Fluss des Lebens und es hat den Anschein, als würde genau dann alles automatisch auf ihn zukommen: wenn er nichts will. Wie ein Magnet zieht er das an, wonach sein Herz sich in Wahrheit sehnt: Gelegenheiten, Jobs, Menschen, Surfbretter, (Surf-)Möglichkeiten, Ideen und die Liebe kommen einfach ungefragt. All das geschieht jedoch auf einer unbewussten Ebene. Liegt es am Urvertrauen? Dieses Jahr 2021 werden Odile und er heiraten. Odile ist halb Nicaraguarin, halb Französin – eine natürliche Schönheit, die ebenfalls dem Surfen frönt. Sie kümmert sich um den kleinen Surfshop, während  Cristobal in seiner Werkstatt herumwerkelt. Man spürt ihren gemeinsamen Vibe.

Urvertrauen, Covid und Armut
Covid hinterlässt auch in Nicaragua seine Spuren. Manche Touristen sitzen während des Lockdowns im Land fest und leihen sich folglich Bretter für über einen Monat aus. Die Preise hierfür reduziert Cristobal. Den großen Umsatz macht er natürlich nicht, aber das Geschäft läuft weiterhin. Die einzige Sorge: Ungewissheit. Man weiß nicht, wie lange die Krise anhalten wird und für wie lange man auf seine Ersparnisse zurückgreifen kann. Das Paar fährt einen Gang zurück, konzentriert sich nur auf das Nötigste, aber stets im Vertrauen.

Ich erfahre, dass 2017 das wirtschaftlich stärkste Jahr für Nicaragua war. Der Tourismus floriert. Das wirtschaftliche Wachstum macht selbst vor abgelegenen Dörfern nicht halt. Viele „Nicas“ –  so nennt man die Einheimischen hier in Nicaragua –  fahren zum Beispiel Fahrräder. Jedoch erschüttert im selben Jahr die politische Krise das Land und ihre Menschen – mehr noch als die Pandemie. Es folgen Proteste gegen eine geplante Sozialreform sowie die Unterdrückung der Meinungsfreiheit. Die Aufstände werden gewaltsam niedergeschlagen, hunderte von Menschen sterben. Geschäfte in den größeren Städten wie Granada, León sowie San Juan schließen unmittelbar und die Amerikaner verlassen postwendend das Land. Hinsichtlich der Pandemie ist Odile besorgt, doch Cristobal spricht ihr stets Mut zu. „Wir schaffen das schon. Mach dir keine Sorgen“, sagt er zu Odile immer wieder. Wenn er an einem Tag ein oder zwei Bretter verleihen kann, ist das schon ein guter Tag und er ist dankbar. „Fokussiere dich nicht zu sehr auf die Medien, auf das Schlechte. Konzentriere dich auf dich selbst, auf das Gute. Die Menschen, die wir lieben, denen geht es gut. Das ist alles was zählt. Wir sind sicher“, ermutigt er seine Freundin. Er bezieht sich auf die Community in Nicaragua, die sich untereinander unterstützt. Er ist im Vertrauen und fühlt sich sicher, da die Einheimischen wissen wie man überlebt. Cristobal ärgert sich über manche Amerikaner:innen, die meinen es besser zu wissen und Ambitionen haben, den Nicas zu helfen. Er weiß, dass die lokale Bevölkerung nicht auf fremde Hilfe angewiesen ist. Sie wissen wie man Häuser baut, ein Schwein oder ein Huhn zubereitet, Bohnen erntet sowie kocht, fischen geht und all das. Im Gegensatz zu wohlhabenden Ausländern, die nicht über diese Fertigkeiten verfügen und schlichtweg aufgeschmissen wären. Cristobal hat eine ganz eigene Auffassung von dem Begriff „arm“ und wir philosophieren über dessen eigentliche Bedeutung. Er kommt zum Schluss: Solange ein Dach über dem Kopf vorhanden ist und ausreichend Nahrung zur Verfügung steht, man resultierend nicht arm sein kann. In hoch entwickelten Ländern hat er viel mehr Armut in Form von Stress, Depressionen, Unzufriedenheit, Zeitmangel und Einsamkeit gesehen. Seiner Auffassung nach, ist es eine einseitige Sichtweise von Menschen, die in sogenannte Dritte-Welt-Länder einreisen und solche als arm etikettieren, nur weil es nicht ausreichend Ressourcen gibt. Die Menschen in Nicaragua wollen einfach nicht mehr, sie sind zufrieden. So einfach ist das. „Wenn es um Materialien und Ressourcen geht, kannst du sagen, dass Nicaragua arm ist. Aber wenn wir auf das Leben zu sprechen kommen, sind sie alles andere als arm: Diese Menschen essen genug, haben Zeit füreinander und sind glücklich. Es herrscht eine Menge Liebe in den großen Familien“, erklärt er. In Nicaragua gibt es zwar deutlich weniger Touristen, als im benachbarten und ökonomisch reicheren Costa Rica, dennoch gibt es ein paar Menschen die hierher auswandern, vor allem Amerikaner:innen. Ich bin neugierig und frage nach. Denn es scheint, als könne man hier in Popoyo wirklich nicht viel machen außer zu surfen. „Es gibt viele Auswanderer, die ihren Job kündigen und hierherziehen, um Abstand zu gewinnen und entspannen wollen. Nach einem Monat sind sie aber frustriert. Sie kommen mit falschen Erwartungen hierher. Wenn du ein simples Leben haben möchtest, musst du dich auf simple Umstände einstellen. So einfach ist das“, schildert Cristobal.

„Nach 30 Jahren surfen bin ich offen für die Nicht-Surfer-Welt. [...] Wenn man sich zu sehr auf das Surfen beschränkt, verliert man den Blick für andere schöne Dinge, die dir dadurch verwehrt bleiben.“

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Den Ozean stets in Sichtweite
Cristobal macht keine Pläne. Immer wieder klatscht er während des Erzählens gegen sein Schmirgelpapier um den Staub abzuklopfen. Er hat nicht DIE eine Vision von seinem Leben. Er weiß nur, dass er an einem Ort leben möchte, wo es wenig Tourismus gibt. Es scheint, als wäre ihm das Land egal, solange der Ozean da ist, der ihm wie ein Nordstern den Weg weist. Auch wenn er nicht im Meer sein kann, so ist es ihm extrem wichtig, es wenigstens in Sichtweite zu haben. Das Meer ist sein innerer Kompass und so lange er in dessen Reichweite ist, wird er sich nicht verirren: Ozean, Surfmöglichkeiten, Neugier und die Freude für das Leben scheinen seine Antreiber zu sein.
„Ich kann auf das Surfen verzichten. Es macht mir zwar Spaß, schenkt mir Freiheit und es ist wie eine Meditation, weil man voll im Hier und Jetzt ist – im Flow. Es ist aber nicht das wichtigste für mich. Nach 30 Jahren surfen bin ich offen für die Nicht-Surfer-Welt. Aber ohne den Ozean kann ich nicht leben. Wenn man sich zu sehr auf das Surfen beschränkt, verliert man den Blick für andere schöne Dinge, die dir dadurch verwehrt bleiben“, erläutert Cristobal. Er bereut nichts im Leben. Er sagt jedoch, wenn er in einem anderen Leben nochmal ein Teenager wäre, hätte er nicht so viel Angst vor dem älter werden. Denn als Jugendlicher dachte er immer, dass man mit 40 Jahren schon steinalt sei – das Leben wäre schon vorbei. Doch Cristobal freut sich aufs älter werden – man ist so viel weiser, erfahrener, gelassener und viel mehr im Vertrauen mit sich und dem Leben. Ich freue mich, dass er das sagt, denn ich kenne sehr wenige, die diese Denkweise kultivieren. Er liebt es älter zu werden. Viele Dinge schätzt er mehr und generell ist er viel geduldiger. „Ich liebe es älter zu werden, alles läuft einfach so geschmeidig“, sagt er und ich kaufe ihm jedes Wort ab. Er möchte diese Perspektive auch später seinen Kindern mit auf den Weg geben: Keine Angst vor dem älter werden zu haben. Es herrscht eine angenehme Pause und er schmirgelt die Ränder eines blau schimmernden Surfbretts gewissenhaft ab und ich schaue ihm gerne dabei zu. Mir kommt der Gedanke, dass man seine vertrockneten sowie veralteten Denkmuster ebenfalls abschürfen sollte.

Träume und was im Leben wirklich zählt
Cristobal trägt noch viele Träume im Herzen: Neben dem Reisen, was er gerne mit dem Reparieren und Kreieren von Surfbrettern kombinieren will, möchte er Kinder haben – möglichst viele. Ich bin gerührt, denn als er davon spricht, hat er Freudentränen in den Augen. Ich bin mir sicher, dass er seine Träume erreichen wird. Er zuckt dabei die Achseln, als wäre die Erfüllung seiner Träume sekundär. Es geht eher darum, einfach sein Ding zu machen und sich von seiner Leidenschaft zum Leben, treiben zu lassen. Nach dem Motto: es kommt wie es kommt.

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„Wenn man geliebten Menschen in ihrem Sterbebett zuhört, glaubt man ihnen was sie sagen, denn diese Menschen lügen nicht.“

In gewisser Weise ist Cristobal ein stiller und friedlicher Rebell innerhalb der Gesellschaft, der sich gegen die institutionalisierten Normen auflehnt und nicht den klassischen Weg verfolgt, den man für gewöhnlich erwartet: Schule, Studium, Arbeit, Haus, Heirat, etc. Er verurteilt Menschen jedoch nicht, die diesen Weg einschlagen, denn jeder hat die Wahl sein eigenes Leben zu gestalten. Er beobachtet nur, dass viele im tückischen Wohlstand nicht wahrhaftig glücklich sind: Zu viel Arbeit und übermäßige Unzufriedenheit. Er erzählt mir, dass sein Vater jahrelang arbeitete: kein Urlaub, nur am Sparen und kaum Zweisamkeit mit seiner Mutter verbrachte. Als er die Diagnose Gehirntumor mit 56 Jahren erhält, stirbt er binnen 6 Monaten. Auch der neue Lebenspartner seiner Mutter arbeitete sein ganzes Leben unermüdlich. Als er schließlich in Rente geht, erkrankt er an Krebs und stirbt ebenfalls. Im Sterbebett sagte er noch zu Cristobal, dass er alles richtig gemacht habe. Hätte er nochmal die Chance, würde er auch weniger arbeiten und mehr der Freude folgen. „Wenn man geliebten Menschen in ihrem Sterbebett zuhört, glaubt man ihnen was sie sagen, denn diese Menschen lügen nicht“, sagt  Cristobal eher nüchtern als traurig, denn er lebt sein Leben bislang so, wie er will. In seiner Familie wird Cristobal stets als das schwarze Schaf abgestempelt, angeblich nutzlos für die Gesellschaft. Bis jetzt hat er sich nicht von der Gesellschaft formen lassen. Er hat weder in Frankreich noch in Nicaragua eine feste Adresse, kein Bankkonto und keinen Führerschein. „Ich bin ein Tourist dieser Welt. Die Gesellschaft will niemanden wie mich haben“, lacht er. Er wurde schon sehr oft für seinen Lebensstil kritisiert. Ihm ist das jedoch egal, denn jeder Mensch ist so unterschiedlich und besitzt eine andere Wahrheit. Er lebt seine. Cristobal ist der Meinung, solange man andere nicht hinters Licht führt, kann jeder machen was er will. Er fühlt sich alles andere als „nutzlos“ – er gibt auf seine Weise der Gesellschaft etwas zurück. Meine letzte Frage lautet, was Leidenschaft für ihn bedeutet. Cristobal findet zunächst nicht die richtigen Worte. Er überlegt, setzt an, stammelt etwas, bricht dann wieder ab. Ich grüble darüber, dass man Leidenschaft womöglich nicht in Worte fassen kann. Er fährt jedoch fort und sagt bündig, dass es ein Gefühl sei, dem man unbedingt nachgehen müsse. Man tue es einfach, ohne etwas dabei zu erzwingen. Dabei gehe es nicht um das Monetäre. Es sei eine Tätigkeit, die einen einfach zufriedenstellt und erfüllt. Es gelte seine Leidenschaft zu beschützen – sie sei unberührbar, sie sei pur.

Text: Katharina Hahn
Fotos: Johannes Hahn (Webseite, Instagram)
Veröffentlichung: 14.09.2021


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