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Mutter Erde und
ihre kostbaren Schätze

Eine Geschichte über die bewusste

Verbundenheit und Liebe zur Natur

Portrait: Sammlerin und Herbalistin auf Maui

Jeden Mittwoch und Samstag findet der Bauernmarkt in Napili, an der Westküste der hawaiianischen Insel Maui, statt. Bei Ankunft auf dem Markt, der aus ungefähr fünfzehn Ständen besteht, fällt mir unmittelbar der erste Verkaufsstand ins Auge – es ist ein seltener Anblick in den USA: es ist gibt kaum Plastikverpackungen. Tropffläschchen mit allerlei Tinkturen, Honig sowie Olivenöle in kleinen Glasgefäßen sind dekorativ auf den Holz-Etageren arrangiert; diverse Kräuterteemischungen in braunen Papiertüten schmücken den Stand, auf denen in bunter Handschrift Botschaften wie Love Yourself, Lucid Dreamer oder Chillax geschrieben stehen. Mit Sorgfalt und Liebe zum Detail sind sämtliche Produkte aufbereitet. Ebenfalls werden süße Backwaren unter einer Glaskuppel verkauft. Eine junge, zierliche Dame mit Zahnspange, Federohrringen und großen braunen Augen bietet uns bescheiden von ihren Bananenbrot Cookies an, die köstlich schmecken. Ihr Name ist Melissa.
Mir gefällt, dass alle Produkte aus eigener Hand stammen und es sich fast nur um lokale Zutaten handelt. Auf einer Kreidetafel wird transparent und in bunten Farben hervorgehoben, in welcher Entfernung die jeweiligen Pflanzen, Blüten, Pilze und Früchte, die für ihre Produkte hergenommen werden, von Napili geerntet bzw. gesammelt wurden. Den Stand betreibt sie seit ungefähr zwei Jahren. Die Pandemie ist ein Katalysator für sie, die Idee sich selbstständig zu machen in die Tat umzusetzen. Als sie ihren Job in einem Restaurant aufgrund der Schließung durch COVID-19 verliert, wird sie kreativ. Ich möchte mehr erfahren, doch immer wieder kommen Leute an den Verkaufsstand, so dass ein persönliches Gespräch nicht richtig zustande kommt. Zu Hause spüre ich Melissa auf Instagram auf und schreibe ihr. Nach einer Woche erhalte ich eine Nachricht, dass sie sich sehr freuen würde, wenn wir sie bei ihrer Lieblingsbeschäftigung begleiten würden: sich in der Natur auf die Suche nach essbaren Wildpflanzen zu begeben. Melissa möchte uns zeigen, wie man aus einer Pflanze eine Tinktur herstellt. Als ich sie ein paar Tage später am verabredeten Treffpunkt vor ihrem Auto stehen sehe, trägt sie feste Wanderschuhe sowie einen kleinen Korb bei sich. Ich erhasche darin ein Messer mit großem Holzgriff sowie Glasgefäße. Von ihrer anfänglichen Zurückhaltung am Stand ist keine Spur mehr zu erkennen: Melissa ist voller Vorfreude sowie Enthusiasmus und möchte uns die Wildpflanze zeigen, die sie für die geplante Tinktur ins Auge gefasst hat. Ihre Freude ist ansteckend. Sobald wir loswandern, klärt sie uns geradewegs darüber auf, welche Früchte, Pflanzen und Bäume es in der Umgebung gibt.

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„Seitdem ich 3 Jahre alt bin und
das Laufen gelernt habe,
hat mein Papa mich stets
zum Angeln mitgenommen und
wir haben immer viel Zeit in
der Natur verbracht. [...]“
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„Mir hat es so viel Spaß gemacht, die Menschen für die Natur und ihre Pflanzen sowie Vögel zu begeistern. So kam mir die Idee,
dass ich nicht im Labor hocken muss, um einen Unterschied in der Welt zu machen. […]“

Waldliebe
Melissa Benedict (27)  ist im Pazifischen Nordwesten der USA aufgewachsen. Ihr Heimatort befindet sich in der Nähe des gigantischen Nationalparks Gifford Pinchot National Forest, in Washington State. Hinter ihrem Elternhaus befindet sich ein Fluß, wohin ihr Vater sie oft mitnimmt, um gemeinsam Lachs-Fischen zu gehen. Er zeigt ihr nicht nur, wie man angelt, sondern auch welche Beeren, Pilze und Pflanzen man zu welcher Jahreszeit sammeln und verzehren kann. „Seitdem ich 3 Jahre alt bin und das Laufen gelernt habe, hat mein Papa mich stets zum Angeln mitgenommen und wir haben  immer viel Zeit in der Natur verbracht. Man sieht die Pflanzen jeden Tag und lernt sie dadurch richtig kennen – das hilft auf jeden Fall, ein Interesse dafür zu entwickeln“, erklärt Melissa und ist dankbar, dass sie in solch einer Naturumgebung aufgewachsen ist. Im Alter von acht Jahren kann sie im Wald selbstständig essbare Pilze bestimmen. Daraus hat sich nicht nur eine Leidenschaft und ein Hobby entwickelt, sondern der Wald ist zu ihrem zweiten Zuhause geworden: ihr natürliches Habitat – ein Ort der Ruhe und Stille, wo negative Gedanken sowie Gefühle keinen Raum finden. Melissa will Ökologie studieren, fällt aber durch die erforderlichen Mathe-Kurse. Nach der Oberschule begeht eine Freundin von ihr Selbstmord. Zu dem Zeitpunkt ist Melissa 19 Jahre alt. Sie befindet sich nicht vor Ort, da sie in einer anderen Stadt studiert. Dieses Ereignis hinterlässt bei ihr tiefe Spuren und Melissa fängt an sich mehr mit dem Thema Psychische Gesundheit auseinanderzusetzen. Es gibt in der kleinen Gemeinde wo sie lebt, keine geeigneten Einrichtungen oder ausreichend Fachkräfte auf dem Gebiet der seelischen Gesundheitsfürsorge. Sie entwickelt ein starkes Bewusstsein für ihr eigenes mentales Befinden und entscheidet sich dafür Gesundheitswesen zu studieren. Es folgt ein weiterer Studiengang in Umweltbildung sowie Anthropologie.

Als Studentin ist sie Mitglied im Sierra Club – der ältesten sowie größten Naturschutzorganisation der USA. Zudem engagiert sie sich für Umweltbildung bei der US Forest Service als Rangerin. Bei einer Wanderung über den Sierra Club muss Melissa für den Feldführer-Schein eine Gruppe leiten. Sie erinnert sich, dass es meist Menschen aus Großstädten waren, die ihre leeren Akkus in der Natur auftanken wollten. „Mir hat es so viel Spaß gemacht, die Menschen für die Natur und ihre Pflanzen sowie Vögel zu begeistern. So kam mir die Idee, dass ich nicht im Labor hocken muss, um einen Unterschied in der Welt zu machen. Ich kann auch draußen im Freien neue Verbindungen zur und Leidenschaften für Natur ermöglichen – für Menschen, die zuvor nicht die Möglichkeit hatten, eine Beziehung zu dieser zu entwickeln“, strahlt Melissa. Diese Gruppenwanderung löst etwas in ihr aus: es erfüllt sie, Menschen für die Natur zu begeistern sowie ihre eigene Freude für diese dadurch zu teilen. Es lässt sie ein noch tieferes Bewusstsein für den Erhalt der Natur entwickeln. „Diese gemeinsame Wanderung bewirkte, dass mein Verantwortungsgefühl der Natur gegenüber noch stärker geworden ist, da ich gesehen habe, welchen positiven Effekt dieses Naturerlebnis auf andere Menschen hat”, erläutert sie rückblickend. Während des Studiums macht sie viele Exkursionen im Freien – ihr Bestimmungsbuch ist stets dabei. Mittlerweile braucht sie dieses nicht mehr, da sie bereits viele Wildpflanzen auswendig kennt. Nach Beendigung der Universität arbeitet sie ein Jahr im Sozialwesen mit finanziell benachteiligten Kindern und Jugendlichen in ländlichen Gebieten, die keinen angemessenen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Die Arbeit beschreibt sie wie einen Kampf gegen Windmühlen, sodass sie einen Burnout erleidet und in ihren Heimatort zurückkehrt. Sie möchte in kurzer Zeit so viel Geld wie möglich verdienen, damit sie nach Hawaii ziehen kann – das ist nämlich ihr heimlicher Traum und der Ruf zum Abenteuer, der ihr Perspektive und Hoffnung verschafft. Melissa möchte das einzigartige Naturparadies in Ozeanien sehen, von dem sie als Kind träumte: Tauchen lernen, die einmalige Korallen- und Fischwelt, sowie die Gezeitenbecken bestaunen – all das, was sie zu Hause nicht in dieser tropischen Form vorfinden kann. Vor allem möchte sie aber an einen Ort, dessen Temperaturen und Vegetationen es ermöglichen, das ganze Jahr über Früchte, Pilze und Pflanzen zu sammeln sowie zu ernten.
Sie fängt einen Vollzeitjob als Kellnerin an und obwohl die Arbeit körperlich wie mental strapazierend ist, verdient sie ausreichend, um innerhalb eines Jahres nach Maui zu ziehen. Ihre Kraftquelle ist der Wald, in dem sie immer wieder Zuflucht sucht, um zu entspannen und den Alltagsdruck hinter sich zu lassen. In der Gegenwart von tierischen Bewohnern des Waldes und der Abgeschiedenheit scheint sie sich wohler zu fühlen als unter Menschen. „Nach meinen Schichten habe ich so viel Zeit wie nur möglich im Wald verbracht und bin dort sammeln gegangen. Ich brauchte das einfach. Das machte mich glücklich”, erklärt sie. Wir stoppen abrupt, denn auf einmal stehen wir vor einer kleinen Pilzfamilie. Melissa informiert uns eifrig über deren Gattung sowie Eigenschaften – dabei leuchten durchweg ihre Augen.

„Erst entsteht die Freude,
dann die konkrete Idee.“
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Inspiration – Gedanken – Realität
Melissa ist 25 Jahre alt, als sie ausreichend Ersparnisse besitzt und endlich nach Maui reist. „Alles begann mit der Idee nach Maui zu ziehen“, erklärt Melissa, die es selbst noch nicht fassen kann, dass sie sich im traumhaften Naturparadies ein Leben aufgebaut hat. Für zwei Monate lebt und arbeitet sie zunächst auf einer Farm, wo sie für Kost und Logis nichts zahlen muss. Sie schaut viele Dokumentationen von Anthony Michael Bourdain an, ein US-amerikanischer Koch und Autor, der sie innig inspiriert, denn er verwendet hauptsächlich frisch geerntete Pflanzen für die Zubereitung seiner Speisen. Seine Authentizität und Begeisterung, mit der er Wissen vermittelt, beflügeln sie. Ab und an ist Melissa auf dem Wochenmarkt und hilft dessen Besitzer beim Verkauf von Gemüse und Früchten. Zur Weihnachtszeit traut sie sich ihn zu fragen, ob sie mal selbst gebackene Kekse an seinem Stand verkaufen darf und macht an dem Tag gleich 30 Dollar Umsatz. „Erst entsteht die Freude, dann die konkrete Idee. Ich liebe backen. Es hat einfach so viel Spaß gemacht meine selbstgemachten Kekse zu verkaufen und dann habe ich mir gedacht: wenn ich einfach doppelt so viel backe, dann kann ich vielleicht doppelt so viel verdienen“, schildert Melissa und strahlt dabei über das ganze Gesicht. Es sind die kleinen Dinge, die ihr sichtlich Freude bereiten und für die sie sich begeistern kann. Immer wieder halten wir an, weil wir auf dem Weg kleine Naturspektakel wie zum Beispiel eine gelb-orangene Schnecke antreffen, deren Farbmuster sie staunend begutachtet. Mit der Zeit auf Maui kommen neben süßen Backwaren und Focaccia-Brot auch selbstgemachte Kosmetik- und Gesundheitsprodukte hinzu. All das Wissen eignet sich Melissa durch eifriges Selbststudium aus Büchern und Videos an. Damit sie selbst unabhängig und mobil ist, lässt sie zudem ihr Auto von Washington auf die Insel schiffen. 
Melissa findet die Wildpflanze die sie sucht: Jamaican Blue Vervain. Neben den gesundheitsfördernden Eigenschaften dieser Pflanze erfahre ich, dass Flüssigextrakte (Tinkturen) viermal stärker als herkömmlicher Kräutertee sind. Sie zückt ihr Messer, trennt die Stängel sorgfältig ab und legt sie anschließend in ihren Korb. 
Wir kommen an einen Ententeich, der von Bäumen pittoresk umsäumt ist und einer Postkartenkulisse gleicht. Wir setzen uns, schweigen eine Weile, beobachten die Naturlandschaft und lassen dabei die Sonne in unsere Gesichter strahlen. Ich möchte die Stille nur ungern unterbrechen, will aber erfahren, ob ihr eigentlich klar ist, dass sie gegenwärtig ihren Traum lebt. Wie ein kleines Mädchen kichert Melissa und grübelt. Offenbar scheint es ihr noch nicht wirklich bewusst zu sein. Sie erzählt mir von einem besonderen Moment, den sie vor einigen Wochen beim Tauchen erlebt hat:
Melissa lässt sich etwa 15 Meter tief am Grund des Ozeans herabsinken und verweilt dort für ungefähr 20 Minuten. Sie schließt ab und an die Augen, atmet ganz ruhig und langsam. Ihre Flossen zieht sie dabei aus und klemmt diese unter Steinbrocken, damit sie nicht von der Strömung mitgerissen werden. Ein Drückerfisch schwimmt zu den Steinen und versucht, seine Nase unter diese zu stecken. Dann schwimmt er auf Melissa's Hand zu, dann erneut zu den Steinbrocken. Sie hat das Gefühl, dass er will, dass sie die Brocken aufhebt. Also tut sie es und der Drückerfisch fängt an, unter dem Stein zu essen, während Melissa diesen hochhält. Sie meint, dass der Fisch ihr vertraue, dass sie den Stein nicht fallen lassen würde. „Ich dachte nur: wow, ich habe gerade eine symbiotische Freundschaft mit dem Fisch angefangen“, schwärmt sie, als sie von jenem Augenblick berichtet. Melissa trägt ihr Kind immer noch in sich, wenn sie von Tieren und Pflanzen spricht sowie ihr ganzes Wissen und persönliche Erfahrungen darüber teilt – sie ist dann in ihrer eigenen Zauberwelt, in der keine Schranken existieren. Ich höre ihr gerne zu. Sie wirkt in ihren Schilderungen kindlich und ihre großen braunen Augen strahlen die ganze Zeit über vor Begeisterung.
Als die Pandemie ausbricht, ist sie plötzlich auf sich alleine gestellt, denn sie verliert ihren Job im Restaurant. Melissa hat jedoch genug Geld für einen eigenen Stand gespart, den sie zwei Mal die Woche aufbaut. Treue Kundschaft kommt weiterhin. „Ich habe realisiert, dass die Menschen bereit sind, in gutes Essen zu investieren“, erklärt sie dankbar, denn das ermöglicht ihr, sich über Wasser zu halten und weiterhin auf der Insel zu leben. Als die Pandemie langsam abklingt, fängt Melissa an, gelegentlich kostenlose Einführungskurse für Tinkturen und Kräuterwanderungen auf Spendenbasis zu geben. „Einmal wollte ich sammeln gehen und habe eine Wanderung gemacht, wobei mich drei Leute begleitet haben. Ich habe ihnen mein Wissens vermittelt und sie waren anschließend so begeistert, dass sie mir sogar Geld dafür gegeben haben. Das war so cool, denn ich hätte diese Wanderung ohnehin gemacht!“, berichtet sie immer noch ungläubig. Doch diese Erfahrung stärkt ihr Selbstwertgefühl sowie ihre Selbstsicherheit. Sie möchte langfristig mehr Workshops anbieten und ihr Wissen über das Sammeln von Wildpflanzen sowie deren Eigenschaften weitergeben – auf möglichst ethische und moralische Weise.

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„[…] Das hatte mich im ersten Moment sehr verunsichert.
Dann habe ich einen Self-Check gemacht und mich gefragt, was eigentlich meine konkreten Intentionen sind.“

Ethik und Wissensvermittlung
Bislang zögert Melissa noch mit ihrem Wunsch, seriöse Workshops auf Maui anzubieten, da sie Angst hat, diese nicht „ethisch genug“ auszuführen. Sie erklärt mir, dass viele amerikanische Ureinwohner beispielsweise über ein kulturelles Erbe verfügen würden, bei dem das Wissen über Pflanzenkunde äußerst heilig sei und nur an Verwandte und Auserwählte innerhalb der Blutlinie weitergegeben werde. Man müsse höchst verantwortungsbewusst mit überliefertem Wissen der Ahnen umgehen und dieses nicht für monetäre Zwecke missbrauchen, wie es zum Beispiel beim Tourismus öfters der Fall ist. Die Ureinwohner, die über Generationen hinweg das Fachwissen behutsam bewahren würden, hätten eine enge spirituelle sowie geschichtliche Verbindung zu den (Heil-)Pflanzen in ihren Territorien. Sie würden sich über die Menschen ärgern, die jenes fremde, geschützte sowie wertvolle Wissen unreflektiert teilen und für sich beanspruchen würden – ohne sich über die kulturelle Identität sowie das Erbe der Ureinwohner bewusst zu werden. Melissa hadert folglich noch mit der Idee, Wissen auf Maui zu vermitteln, das nicht ihrer eigenen Kultur entstammt. „Eine ehemalige Kommilitonin aus der Universität hatte mich mal als Heuchlerin beschimpft, wie ich vom Festland nach Hawaii ziehen könne. Das hatte mich im ersten Moment sehr verunsichert. Dann habe ich einen Self-Check gemacht und mich gefragt, was eigentlich meine konkreten Intentionen sind“, schildert sie rückblickend. Ihr geht es um den Wissenstransfer, der schlichtweg verloren gehen könnte, wenn man diese Praxis nicht korrekt weitergibt. Ohne Gewahrsein über das eigene ethische Verhalten in der Natur, könne dies resultierend dazu führen, dass Pflanzenarten aussterben würden.

„Wo auch immer ich sammeln gehe versichere ich mich, dass ich weiß, wer in der Nähe lebt. Wenn es zum Beispiel ältere Menschen sind, versuche ich immer weiterzugehen und einen anderen Baum mit denselben Früchten zu finden. [...]“
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Exkurs: Hawaii – „Aussterbungshauptstadt der Welt“

Die acht polynesischen Inseln im pazifischen Ozean bilden nicht nur die abgelegenste Archipel-Kette der Erde ab, sondern Hawaii wird auch als die „Aussterbungshauptstadt der Welt“ bezeichnet, deren Flora und Fauna sowie einzigartige Biodiversität vom Aussterben stark bedroht ist. Viele der verbleibenden einheimischen (endemischen) Pflanzen- und Tierarten gelten heute als gefährdet. Dies hat mehrere Ursachen, die teilweise historisch Jahrhunderte zurück begründet liegen: Viele bekannte Faktoren wie Klimawandel, globale Erderwärmung, der steigende Meeresspiegel sowie die Gewinnung natürlicher Ressourcen für den menschlichen Bedarf, führen zur Zerstörung der hawaiianischen Ökosysteme. Dabei spielt insbesondere der menschliche Einfluss eine exorbitante Rolle: Sowohl die ersten Polynesier als auch die späteren Europäer haben einheimische Wälder für Sandelholzbäume gerodet und nicht-heimische (invasive) Arten wie Hunde, Hühner oder Schweine, zum Teil für die Landwirtschaft eingeführt. Resultierend ging die einheimische Vegetation durch Viehweiden verloren und später wurden weite Teile der einheimischen Wälder für Zuckerrohrplantagen gerodet. Pflanzenarten gelten auf Hawaii als besonders gefährdet: Von insgesamt rund 2.700 Pflanzenarten sind etwa 950 nicht endemisch, wobei 800 der einheimischen Arten als gefährdet eingestuft sind. In diesem Archipel sind vier Säugetierarten, darunter der Pottwal und der Buckelwal sowie weitere Endemiten vom Aussterben bedroht. Fast 50 Prozent der 140 Vogelarten sind bereits verloren gegangen. Die starke Belastung der Natur setzt sich bis heute fort und wird durch den Zustrom von Touristen verstärkt. Die heutige Situation in Hawaii ist jedoch keineswegs ein Einzelfall und illustriert, was auf der ganzen Welt geschieht, wenn sich das kollektive Bewusstsein sowie die Bereitschaft zur Unterstützung sowie Veränderung auf allen Ebenen (Bundes – und Landesregierungen, Medien, Naturschutzorganisationen sowie Bevölkerung), nicht nachhaltig verändert.
Quellen:
https://www.worldmap-knowledge.com
https://biologicaldiversity.org
https://www.fws.gov

„Ich bin jetzt an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich nicht mehr jedem zu gefallen versuche, so dass es viel einfacher ist mein eigenes Ding zu machen. Ich liebe das was ich tue. Ich bin überzeugt davon und ich fühle mich gut.“

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Auf Maui fängt Melissa an sich mit Einheimischen und denjenigen, die über Dekaden auf der Insel leben, auszutauschen. Dort sei es besonders schwer den Unterschied zu erkennen, ob ein Stück Land öffentlich oder privat sei. Bevor sie etwas pflückt oder aufsammelt, versichert sie sich jedoch stets, dass die Besitzer:innen ihr die Erlaubnis geben, dort zu ernten. Nach ihr, sei es extrem wichtig, dass man die Menschen vor Ort gut kenne und respektiere. „Ich habe einmal Papaya geerntet, weil ich dachte, dass es ein öffentlicher Platz sei, bis mich der ältere Besitzer gesehen hat und mich ermahnte sein Grundstück zu verlassen und seinen Papaya-Baum in Ruhe zu lassen“, schildert sie verständnisvoll. Oft ist es die (eigene) Unwissenheit die zu Konflikten führt. „Wo auch immer ich sammeln gehe versichere ich mich, dass ich weiß, wer in der Nähe lebt. Wenn es zum Beispiel ältere Menschen sind, versuche ich immer weiterzugehen und einen anderen Baum mit denselben Früchten zu finden. Denn diese Menschen sind vielleicht nicht mehr so fit und vital wie ich und auf den Baum in ihrer Nähe angewiesen“, erläutert sie bedacht. Weiterhin achtet Melissa darauf, dass sie an einer Sammelstelle stets ausreichend Pflanzen einer Art in Form von Samen oder Blüten hinterlässt, damit deren Vermehrung nicht behindert wird. Melissa erntet nur Pflanzen, die invasiv sind: Es handelt sich dabei um eingeführte und gebietsfremde Pflanzen. Sie gedeihen stärker und nehmen zuweilen auf der Insel überhand. Ich erfahre, dass die Flora und Fauna auf den hawaiianischen Inseln stark vom Aussterben bedroht ist, daher wird Hawaii oftmals auch als „Aussterbungshauptstadt der Welt“ bezeichnet. „Insbesondere selten vorkommende Pflanzen- oder Blumenarten berühre ich nie, stets nur eingeführte Pflanzen, weil ich weiß, dass diese im Überfluß vorhanden sind und sich schnell zu Lasten des Ökosystems vermehren“, erklärt Melissa.

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„[…] Dennoch ist es auch in meiner Familie eine Tradition gewesen, dass wir im Wald fischen gegangen sind und Nahrung gesammelt haben, aus dem schlichten Grund, weil wir uns frische Pilze, Beeren oder Lachs aus dem Supermarkt nicht leisten konnten.
Das ist meine Identität. […]“

„Ich bin jetzt an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich nicht mehr jedem zu gefallen versuche, so dass es viel einfacher ist mein eigenes Ding zu machen. Ich liebe das was ich tue. Ich bin überzeugt davon und ich fühle mich gut“, erläutert sie bestimmt. Melissa möchte ein solides Curriculum erstellen, bevor sie Workshops anbietet und sicherstellen, dass sie das Wissen der Einheimischen über Pflanzenkunde korrekt und moralisch genug weitervermittelt. Ihre eigene 17-jährige Expertise bezüglich des Sammelns und Erntens von Essbarem im Wald möchte sie mit ethischen Handlungsanweisungen verknüpfen und Menschen präventiv für das Thema sensibilisieren und aufklären, damit diese selbstreflektiert und achtsam handeln. „Mir ist es wichtig, dass Menschen nicht zu viel auf einmal sammeln, denn man kann schnell übermütig werden und vergessen, dass die richtige Arbeit erst nach dem ernten beginnt: Der ganze Verarbeitungs- und Aufbewahrungs-Prozess kann bis zu viele Stunden dauern. Ich möchte auf keinen Fall Lebensmittel verschwenden oder schlecht werden lassen“, erläutert Melissa, der genau dies bereits widerfahren ist. Ihre Lehre: Weniger ist mehr.  Ein weiterer ethischer Aspekt sei es, Mundpropaganda nicht zu unterschätzen. Viele Einheimische würden sich über diejenigen ärgern, die unbewusst secret „spots“ auf sozialen Plattformen markieren und diese resultierend keine geheimen Orte mehr seien, weil Menschenmassen, allen voran Tourist:innen, den Ort aufspüren würden. „Es gibt eine wunderschöne Wanderung in meiner Heimat – es war ein Lieblingsort meiner Kindheit. Seit zehn Jahren kann ich dort aber nicht mehr hin, weil die Gegend ständig überfüllt ist. Es ist traurig, denn es sieht nicht mehr so aus, wie ich es in Erinnerung habe, wenn ich mir Bilder in den sozialen Medien davon anschaue“, erklärt sie bedrückt und ist sichtlich enttäuscht über die Entwicklung, die Scharen von Touristen mit sich bringen – ein Phänomen, das sich auf der ganzen Welt abzeichnet. Was das Sammeln und Ernten angeht, solle man nach ihr auf jeden Fall mehrere Orte kennen und sich breiter aufstellen: hat man einmal einer „falschen“ Person von einem Sammelort erzählt, sei die Wahrscheinlichkeit hoch, diesen am nächsten Tag völlig abgeerntet vorzufinden.

Umgang mit Kritik
Eine große Sorge von Melissa ist es, dass das Wissen über den akkuraten Erhalt von der Pflanzenwelt auf Maui und anderswo aussterben könnte. Bereits viele pflanzliche Heilmittel seien verloren gegangen, weil diese Wildpflanzen ausgestorben sind – auch das Resultat von Unkenntnis und des falschen Umgangs mit ihnen. Es ist ihr daher ein großes Anliegen, dem Mangel an fehlendem Bewusstsein für das eigene Verhalten entgegenzuwirken. Die Entschlossenheit treibt sie an, dies ändern zu wollen. „Es wird immer Menschen geben, die nicht gut finden, was ich tue. Es wird immer Kritik hageln“, sagt sie. Ich bewundere ihre Selbstreflexion, ihre Bewusstheit gegenüber der Natur und den Drang etwas verändern zu wollen, wohlwissend, dass ihr öffentliches Engagement für Unmut sorgen kann.
Die Sache ist, dass es immer kritische Stimmen geben wird, sobald man sich äußert und eine eigene Position vertritt.
In einer immer stärker werdenden polarisierenden Gesellschaft, die durch soziale Medien allemal begünstigt wird und wo jede Einzelperson eine Meinung zu etwas hat, ist es sehr herausfordernd, seine eigene Meinung zu vertreten und tatsächlich auch standhaft zu bleiben. Mit sachlichen, soliden und ehrlichen Argumenten kann man jedoch selbstbewusst zu sich selbst stehen. Je lauter und aggressiver Gegenargumente werden, desto mehr sollte man in die Stille kehren und durch Taten überzeugen, die für das Gemeinwohl förderlich sind. Vielleicht geht es auch gar nicht darum, andere Menschen zu bekehren, sondern vielmehr darum, sich selbst und seinen Werten treu zu bleiben und Wege zu finden, sich selbst zu überzeugen, wer man eigentlich sein will und wie man sich letztlich fühlen möchte.
„Natürlich habe ich keine kulturelle oder geschichtliche Identität was das Sammeln und die Verarbeitung von (Heil-)Pflanzen angeht wie die Indigenen und mir ist bewusst, dass es eine wertvolle Weisheit von ihnen ist. Dennoch ist es auch in meiner Familie über Generationen hinweg eine Tradition gewesen, dass wir im Wald fischen gegangen sind und Nahrung gesammelt haben, aus dem schlichten Grund, weil wir uns frische Pilze, Beeren oder Lachs aus dem Supermarkt nicht leisten konnten. Das ist meine Identität und so habe ich mir all das Wissen über Jahre hinweg angeeignet. Warum soll ich also nicht berechtigt sein, mein Wissen weiterzugeben?“, argumentiert Melissa selbstbewusst. Die Unsicherheit und Angst, etwas falsch zu machen, sind subtil präsent, doch gleichzeitig ist ihr klar, dass es unmöglich ist, es allen recht zu machen und sie weiß wo sie sich in Zukunft sieht – dies gibt ihr das nötige Selbstvertrauen, weiter ihre Ziele zu verfolgen. 


„Es ist alles wie ein großes Puzzle für mich, alles ist miteinander verbunden. […]“

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GATHER
„Manchmal muss ich mich selbst stoppen, wenn ich einmal angefangen habe über eine Pflanze zu sprechen und gar nicht mehr aufhören kann zu schwärmen, weil ich mein ganzes Wissen vermitteln möchte“, erklärt Melissa. Doch gerade der eigene Enthusiasmus und die Leidenschaft sind Voraussetzung für authentische Mentor:innen und Bildungsarbeit. Melissa erklärt, dass sie jeden Tag etwas Neues über Pflanzen auf Maui lerne. Sie lebe zwar schon seit zwei Jahren hier, kenne aber noch längst nicht alle heimischen Pflanzen und Tiere. Für sie ist die Natur ein Ort, an dem sie sich mit allem verbunden und im Einklang fühlt. All ihre Sinne sind zeitgleich geschärft. „Ich höre nie Musik, wenn ich im Wald sammeln gehe. Denn manchmal bringen dich Vögel zu den Pflanzen, die du suchst. Du hörst einen Vogel singen und weißt, dass er eine bestimmte Pflanze frisst, dann kann der Vogel dich zu genau jener Pflanze führen, die du eigentlich suchst“, schildert Melissa und dabei ist ihre Stimme sehr ruhig und sanft. Sie folgt der Melodie ihres Herzens, die sie jeden Morgen aufstehen lässt, um genau das zu tun, was sie erfüllt. „Es ist alles wie ein großes Puzzle für mich, alles ist miteinander verbunden. Selbst wenn ich eine Pflanze sehe, über die ich anfangs nichts erfahren möchte, weil ich eigentlich eine andere Pflanze finden will, wird diese mir aber etwas über diejenige Pflanze lehren, über die ich ursprünglich mehr wissen wollte“, schildert Melissa. Ihr Verkaufsstand sowie ihre Produkte tragen den Namen „Gather“, was mehrere Bedeutungen hat. Es ist zum einen genau das, was ihre Leidenschaft simpel ausdrückt – das „Sammeln“ von Nahrungsmitteln. Dies geschieht nach ihr völlig unfreiwillig, was bedeutet, dass sie gar nicht anders kann, als sich ihrer Leidenschaft vollkommen hinzugeben. Und zum anderen bedeutet es „zusammenbringen“: Menschen im Freien durch Naturressourcen zusammenzuführen und zu verbinden – ein kollektives Bewusstsein für die Natur und ihre Kostbarkeiten zu erschaffen und diese zu bewahren.


Träume
Melissa steht noch am Anfang, aber sie ist bereits den wichtigsten Schritt gegangen: Sie hat voller Zuversicht die Entscheidung getroffen, ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen und sich selbstständig zu machen. Auch wenn sich eine Tür nicht öffnen sollte, wird Melissa andere Wege finden, um ihre Träume zu leben, denn davon gibt es reichlich: Eines Tages möchte sie beispielsweise selbst die Entdeckung einer unbekannten Spezies oder Gattung machen – ob Pflanze, Tier, Insekt oder Reptil sei völlig egal. Ferner möchte sie irgendwann verschiedene Orte bereisen und dort die Einheimischen befragen und deren Erfahrungen sowie Wissen dokumentieren, die über Generationen hinweg an einem Ort leben würden und alles über die dortige Pflanzen- und Tierwelt sowie Geschichte wissen. „Das ist auch ein großes Problem was die Debatte um die Waldbrände angeht. Indigene werden gar nicht in die Diskussion und Lösungsfindung integriert, obwohl diese Menschen seit Jahrhunderten in den betroffenen Regionen leben und genau wissen, welche Pflanzen und Bäume man wann pflanzen oder abbrennen soll“, erläutert sie. Melissa möchte durch ihr Vorhaben herausfinden, inwiefern sich das Expertenwissen von Wissenschaftler:innen sowie Indigenen unterscheidet und ob womöglich Muster zu erkennen sind. Ihr letzter Wunsch ist es, eines Tages ihr eigenes Stück Land zu besitzen und Permakultur zu betreiben. Dabei kann sie sich vorstellen, zu ihren Wurzeln im Pazifischen Nordwesten zurückzukehren – zum Ursprung, wo alles begann: die Entdeckung der und Liebe zur Natur.

Text: Katharina Hahn
Fotos: Johannes Hahn (Webseite, Instagram)
Veröffentlichung: 16.11.2021

Mehr Infos zu Melissa Benedict: That Gather Girl

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